whk0106/08.01.2006 whk-Beschwerde Presserats-Entscheidung
Öffentliche Rüge für 2. Kammer des Deutschen Presserates
Skandalöse Milde mit der BILD-Zeitung im Fall der öffentlichen Hinrichtung zweier mutmaßlich homosexueller Jugendlicher im Iran / whk: Presserat gibt politisch verheerendes Signal
In ihrer turnusmäßigen Sitzung am 8. Januar berieten die Berliner Regionalgruppe des wissenschaftlich-humanitären komitees (whk) sowie die Redaktion der vom whk herausgegebenen sexualpolitischen Zeitschrift "Gigi" das Ergebnis einer Presserats-Beschwerde vom August 2005 gegen die BILD-Zeitung. Die 2. Kammer des Presserats hatte dem Springer-Blatt am 8. Dezember statt einer öffentlichen Rüge lediglich eine zu nichts verpflichtende Mißbilligung ausgesprochen und dem whk Ende Dezember die schriftliche Entscheidungsbegründung übermittelt. Dazu erklärt das whk:
In dem weltweit aufsehenerregenden Fall ging es um zwei Jugendliche, die im Iran wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen öffentlich hingerichtet worden waren. Mindestens einer der beiden war zur Zeit der "Tat" minderjährig. Erst nach Protesten internationaler Organisationen hatten die iranischen Behörden das Todesurteil mit der angeblichen Vergewaltigung eines Dreizehnjährigen in der Haft vor der Weltöffentlichkeit zu legitimieren versucht. Die BILD-Zeitung hatte indes am 27. Juli 2005, also eine Woche nach der Hinrichtung und trotz der weltweiten Proteste dagegen sowie der zweifelhaften Quellenlage, als einziges deutsches Medium ein Hinrichtungsfoto nicht nur kritiklos veröffentlicht, sondern die Ermordeten auch noch mit einem Nazi-Begriff belegt und das Foto mit der Zeile "Hier werden zwei Kinderschänder gehängt" betitelt. Das whk legte deswegen Beschwerde "wegen aller in Frage kommenden Verstöße gegen den Deutschen Pressekodex" ein. Es sah "insbesondere durch die sensationell aufgemachte (und neben einem Foto eines Erotik-Models plazierte) bildliche Darstellung der Hinrichtung, durch die reißerische Bildüberschrift sowie durch die irreführende Bildunterschrift die Würde der umgebrachten Jungen verletzt, bei denen es sich um wehrlose Opfer eines kaltblütig begangenen Justizmords handelt".
Die 2. Kammer des Presserates widersprach der Ansicht des whk und mißbilligte lediglich den Abdruck des Agenturfotos als solches unter Verweis auf Ziffer 11 des Pressekodex, wonach die Presse "auf eine unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt und Brutalität verzichtet". Das Foto sei in der Tat "unangemessen sensationell". Die Kammer wies freundlich darauf hin, daß es immer im Ermessen der Redaktion liegt, "selbst zu entscheiden, ob sie solches Material veröffentlichen will oder nicht".
Ansonsten nahm die Beschwerdekammer die außerordentlich zynischen Rechtfertigungen des Axel-Springer-Verlages unwidersprochen hin. Dessen Justitiariat verteidigte den Abdruck damit, das veröffentlichte Foto stamme von der Nachrichtenagentur afp, weshalb der Vertrauensgrundsatz gelte und die pressemäßige Sorgfalt keine eigene Überprüfung des Wahrheitsgehalts der mitgelieferten Informationen verlange. Ebenso konnte die Kammer, Springer zitierend, keine Verletzung der Menschenwürde erkennen, "da auf entwürdigende Begleitumstände in Text- oder Bildberichterstattung verzichtet werde. So sei es dem Leser gerade nicht möglich, in die Augen der jungen Männer oder der Todesurteil-Vollstrecker zu sehen." Es handele sich demnach "um ein rein zeitgeschichtliches Dokument". Auch habe sich anhand des afp-Materials "nicht erkennen lassen, wie alt die zum Tode Verurteilten waren. Die bildliche Darstellung lasse nicht zwingend auf ein minderjähriges Alter schließen." Mit ihrer Einschätzung, "daß es sich bei den beiden hingerichteten Männern um Jugendliche handelt, kann weder dem Foto als solchem noch der zugrundeliegenden Agenturmeldung entnommen werden", geht die Kammer arglos dem Lügenblatt auf dem Leim und verletzt so die eigenen publizistischen Grundsätze: Ob mit oder ohne verbundene Augen, auf allen zu der Fotoserie gehörenden Bildern ist klar erkennbar, daß die Ermordeten fast noch Kinder waren.
Das einzige zutreffende Argument des Springer-Verlags, nämlich der Bericht sei "frei von Vorurteilen über das förmliche Strafverfahren des iranischen Gerichts, die Berichterstattung beschränke sich darauf, über das Urteil des iranischen Gerichts zu berichten", wird von der Kammer behandelt, als sei der Iran keine klerikalfaschistische Diktatur und als entsprächen dortige juristische Verfahren demokratischen und menschenrechtlichen Mindeststandards. Nicht nur die Presse wird damit durch die Kammer jeder Pflicht zu Berücksichtigung und differenzierter Bewertung des Gesamtkontextes eines Ereignisses enthoben, sondern zu allererst entledigt sich ihrer die Kammer selbst: Komplett ignoriert sie den propagandistischen Subtext, der jeden sich innenpolitisch auf der Höhe der Zeit befindlichen Medienkritiker aus der BILD-Veröffentlichung förmlich anschreit, nämlich die Kontextuierung von "Kinderschänder" und "Todesstrafe". In dieser Kombination spiegelt sich der Mißbrauch der Ermordeten für eine maßgeblich von der BILD-Zeitung medial angeheizte, der kriminologischen Faktenlage entgegengesetzte nationale "Kinderschänder"-Hysterie, die in den vergangenen Jahren in undemokratische Strafrechtsverschärfungen ("Wegsperren, und zwar für immer!") mündete. "Die Unterstellung, BILD würde mit der beanstandeten Darstellung gleiche Maßnahmen für deutsche Kinderschänder fordern, weist das Justitiariat mit aller Schärfe zurück", zitiert die 2. Kammer offenbar zustimmend den Springer-Verlag und weist auch das vor dem Hintergrund erwiesener Faktenfehler geradezu groteske Argument nicht zurück, "der Leser sei völlig frei darin, sich eine Meinung zu diesem Ereignis zu bilden".
Abschließend kommt die 2. Kammer wortwörtlich zu dem Schluß: "Eine Vorverurteilung oder Ehrverletzung der beiden Hingerichteten fand in dieser Berichterstattung nicht statt. Auch die Persönlichkeitsrechte der beiden werden nicht verletzt, da sie nicht erkennbar sind."
Das Berliner whk ist vom eiskalten Zynismus des Beschlusses schlichtweg entsetzt. Die Redakteure von Gigi, welche bereits im Editorial ihrer aktuellen Ausgabe auf die eklatante Unverhältnismäßigkeit des Beschlusses zu anderen Beschwerdeentscheidungen derselben Kammersitzung aufmerksam machte, schämen sich überdies dafür, daß eine Kollegin ihrer eigenen Berufsorganisation, der Deutschen Journalistenunion (dju), den Beschluß mittrug. Indem die 2. Kammer sich darin aufs rein Formale zurückzieht, läßt sie jegliches Mitgefühl, allen menschlichen Respekt, jede Moral vermissen, was jedem anständigen Menschen die Frage aufnötigt: Was geht in Leuten vor, die ein solches Mordsfoto betrachten und seinen schändlichen Mißbrauch auf diese Art beurteilen? Doch auch von politischem Bewußtsein, geschweige denn Gespür, fehlt in der einstimmigen Entscheidung jede Spur. Welches verheerende politische Signal sie gerade auch im Hinblick auf die Menschenrechte von Homosexuellen mit ihrer Begründung aussendet, die man sich Satz für Satz auf der Zunge zergehen lassen muß, scheint die Kammer, die ja nichts weniger als moralische Instanz sein will und als solche auch in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wird, nicht im Ansatz erfaßt zu haben.
Der Deutsche Presserat wacht laut Präambel seines Pressekodex über die Berufsethik der Presse und sorgt sich um deren Ansehen. Für das Berliner whk ist nicht erkennbar, woraus dessen 2. Kammer nach dieser skandalösen Entscheidung noch ihre diesbezügliche Legitimation beziehen will. Das Berliner whk erteilt aus diesem Grunde der 2. Kammer des Deutschen Presserates genau das, was diese in kaltherziger Auslegung des Pressekodex und aus innenpolitischer Opportunität der BILD-Zeitung ersparte: eine Öffentliche Rüge.
Rückfragen: 0180/4444945 (Eike Stedefeldt)
Die Beschwerde des whk gegen die BILD-Zeitung sowie den Wortlaut der Entscheidung der 2. Kammer des Presserates dokumentiert die Website des whk. Das erwähnte Editorial der whk-Zeitschrift Gigi zu diesem Fall finden Sie unter www.gigi-online.de.