whk0407/18.06.2007
Na toll: "Scheinpornos" mit "Scheinjugendlichen"
Rechtsausschuß: Juristen erteilen Regierung Nachhilfe in Sexualkunde / whk: Entwurf zur Umsetzung des EU-Rahmenbeschlusses "zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie" ablehnen
Am heutigen Montag fand in Berlin eine Anhörung von Experten durch den Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages zum Koalitionsentwurf zur Umsetzung des "Rahmenbeschlusses des Rates der Europäischen Union zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie" statt. Hierzu erklärt das wissenschaftlich-humanitäre komitee (whk):
So bizarr wie der Koalitionsvertrag, in dem Sexualität nur im Zusammenhang mit Kriminalität auftaucht, so bizarr stellt sich das gesamte Gesetzgebungsverfahren in dieser Sache dar. Fast schon typisch ist die Abkoppelung von den einschlägigen Fachwissenschaften. Daß bei einem derart wichtigen Gegenstand die Sexualforschung nicht einmal gehört wird, kann weder Versäumnis noch Zufall sein. Vielmehr zeigt es, daß der Regierung klar ist, daß eine solche Verschärfung auf wissenschaftlicher Basis nicht legitimierbar ist.
Nach der seinerzeit einhelligen Ablehnung des 2003 verabschiedeten EU-Rahmenbeschlusses durch führende Vertreter und Gesellschafen der Sexualwissenschaft im deutschsprachigen Raum übt nun jedoch auch die Rechtswissenschaft harsche Kritik. Diese gilt konkret der durch die Bundesregierung geplanten Zwei-zu-Eins-Umsetzung des Beschlusses in nationales Recht.
Deutlich wurde hier ein Paradigmenwechsel mit drastischen Auswirkungen. Es werden nicht mehr nur bestehende Gesetze verschärft, sondern neue Tatbestände und Formen devianter Sexualität erfunden mit dem alleinigen Zweck, sie verfolgen und bestrafen zu können. Mit der Erfindung einer "Jugendpornographie" wird das Kabinett Merkel zweifellos in die Rechtsgeschichte eingehen.
In diese Richtung argumentierte auch der Wiener Strafverteidiger Dr. Helmut Graupner. Der Koalitionsentwurf würde zahlreiche neue Tatbestände erfassen, die nicht strafwürdig seien, etwa sexuelle Experimente in Beziehungen zwischen 14- bis 18-Jährigen. Graupner sah die Balance zwischen der Freiheit zum Sex und dem Schutz vor unfreiwilliger Sexualität gefährdet und wies darauf hin, daß laut einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs Menschen zwischen 14 und 18 Jahren sexualmündig sind. Österreich sei bereits zu Schadenersatz verurteilt worden, weil es einem Über-14-, aber unter 18-Jährigen die freie Ausübung seiner Sexualität untersagt hatte. Die Alpenrepublik habe inzwischen bewiesen, daß man den Jugendschutz weniger restriktiv fassen kann. Kampf gegen sexuellen Mißbrauch ist ein Menschenrechtsziel. Er muß scharf geführt werden, aber mit Augenmaß. Mit der jetzigen Vorlage hingegen würde der leicht erfaßbare einvernehmliche Sex unter Jugendlichen die Strafverfolgungsbehörden überlasten und Ressourcen zur Verfolgung der sich mit hohem technischen Aufwand verschleiernden wirklichen Kinderpornographen binden.
Prof. Dr. Tatjana Hörnle von der Ruhr-Universität Bochum kritisierte, man dürfe keinesfalls Jugendliche und Kinder im Strafrecht gleichsetzen. Im Unterschied zu Kinderpornographie bestehe bei der Jugendpornographie keine Gefahr der Nachahmung, schließlich sei diese ja legal. Die Lehrstuhlinhaberin favorisierte eine Staffelung der Strafrahmen nach Unrechtsgehalt. Man müsse zudem unterscheiden zwischen Scheinkindern und Scheinjugendlichen, die nicht dasselbe seien. Für absurd befand sie, daß durch die Kriminalisierung des Besitzes von Jugendpornographie eine große Zahl von Bürgern mit Freiheitsstrafen als Mindeststrafe bedroht würde. Wie Graupner empfahl sie den Abgeordneten die Verweigerung der Umsetzung des Entwurfs. Zumindest müsse der Besitz jugendpornographischer Schriften und bildlicher Darstellungen legal bleiben. Daß die Vorlage auch fiktionale Darstellungen in Bild und Text erfaßt, welche der EU-Rahmenbeschluß gar nicht beinhaltet, hielt sie für nicht vertretbar. Überhaupt sollten die Abgeordneten angesichts des nunmehr über 30 Jahre alten Pornographie-Paragraphen 184 StGB doch nicht glauben, daß ihre Gesetzgebung auf die heutige Verbreitung von Pornographie irgendeinen Einfluß habe.
Laut Florian Jeßberger von der Berliner Humboldt-Universität seien viele jetzt vorgesehene Änderungen im deutschen Recht laut EU-Rahmenbeschluß gar nicht zwingend. Hingegen bedürfe jede nicht zwingende Änderung einer hier offenbar nicht gegebenen eigenen strafrechtspolitischen Rechtfertigung, versetzte der Professor für Internationales Recht Schwarz-Rot eine Ohrfeige. Er selbst erklärte Neukriminalisierungen für nicht zwingend geboten und konstatierte angesichts des Entwurfs, Täter unter 18 würden wie Erwachsene, Opfer unter 18 jedoch wie Kinder behandelt.
Prof. Dr. Joachim Renzikowski von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg mahnte die Neuordnung der Sexualstraftaten an, um Wertungswidersprüche zu beseitigen. So leuchteten unterschiedliche Schutzaltersgrenzen bei den Tatbeständen Herstellung und Vorführung von Pornographie sowie unmittelbarem Sex nicht ein. Wenn ein Über-18-Jähriger entgeltlichen Sex mit einem 17jährigen Mädchen habe, illustrierte der Lehrstuhlinhaber für Strafrecht, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie an einem Beispiel, so sei dies derzeit erlaubt. Werde der Sex aber mit einer Kamera aufgenommen und dann dem Mädchen vorgeführt, sei dies strafbar. Seit langem wird eine sexuelle Akzeleration beobachtet. Jugendliche erleben in immer früherem Alter ihre ersten sexuellen Kontakte, so Renzikowski unter Verweis auf die Sexualwissenschaft. Deshalb sind absolute Schutzaltersgrenzen, wie sie das Gesetz in unterschiedlicher Weise in den einzelnen Jugendschutztatbeständen vorgibt, grundsätzlich problematisch.
Als einziger der Experten sprach sich Klaus Finke von der Zentralstelle zur Bekämpfung jugendgefährdender Schriften in Hannover für den Entwurf aus. Den Oberstaatsanwalt erfreute, daß sich damit die Grauzone für die Altersbestimmung der Kinder- bzw. Jugendpornographie von bisher 12 bis 14 auf 16 bis 18 Jahre verschiebe. Offen ließ er, wie Grauzonen jedweder Art mit rechtsstaatlichen juristischen Grundsätzen vereinbar sein sollen, etwa der Rechtssicherheit der Bürgerinnen und Bürger.
Widerspruch erntete Finke durch Philipp Andreas Thiee von der Berliner Vereinigung der Strafverteidiger. Die Ermittlungsperspektive könne für die Gesetzgebung nicht maßgeblich sein. Erhebliche Abgrenzungsprobleme erkannte er bei den Tatbeständen. Pornographie sei kein Sex, sondern Kommunikation über Sexualität. Die Besitzstrafbarkeit sei grundsätzlich problematisch. Wissenschaftlich sei die Wirkung von Pornographie nicht erforscht, es gebe damit keine empirische Grundlage für derartige Gesetzesvorhaben.Daß schließlich Dr. Ralf Wehowsky, für Revisionssachen zuständiger Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe, monierte, die Pornographiedefinition sei unklar und bei einer erheblichen Erweiterung der Tatbestände der Jugendschutz ständig gegen die grundgesetzlich geschützte Freiheit der Kunst abzuwägen, war ebenfalls ein mehr als deutlicher Schuß vor den Bug der Koalition.
Das whk fordert die Bundesregierung auf, ihren Gesetzentwurf zurückzuziehen und andernfalls von den Abgeordneten des Bundestages, ihn abzulehnen. Ausgehend von einem repressiven Verständnis menschlicher Sexualitäten bedroht er wie der EU-Rahmenbeschluß aus bürgerrechtlicher Sicht die Rechtssicherheit der angeblich zu Schützenden sowie aus menschenrechtlicher Perspektive die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Ohne Not greift das Kabinett die Freiheit von Kunst, Wissenschaft und Information an, bleibt jedoch den Nachweis schuldig, daß verschärfte Kriminalisierung und Überwachung irgendeinen relevanten Schutz zur Folge haben. Zur Prävention von sogenanntem Mißbrauch und Gewalt, egal gegen Menschen welchen Alters sie sich richten, hat sich das Strafrecht noch stets als kontraproduktiv erwiesen.