Positionen des whk, Ausgabe vom Januar 1999
Spritztour zum KZ
Mit der Siegessäule nach Sachsenhausen. Über die Integration des NS-Gedenkens in die kommerzialisierte schwule Event-Kultur.
"Mit der gleichen Methode könnte ich die schwul-lesbische Presse der letzten Jahre durchforsten, all die Gedenkveranstaltungen in KZ-Gedenkstätten, die dazugehörigen antifaschistischen Reden und die Bemühungen um Entschädigung der schwulen Opfer des NS-Regimes zusammentragen, um somit die gay community zu Helden des aktiven antifaschistischen Widerstandes hochzustilisieren."
Per Leserbrief echauffierte sich Christian Scheuß, Chefredakteur von Deutschlands führender Homo-Gazette Queer, gegen einen langen Artikel im Freitag (52/98). Darin hatte Eike Stedefeldt zwei Wochen zuvor unter dem Titel "Die junge Freiheit der Andersliebenden" anhand zahlreicher Beispiele belegt, wie die Schwulenpresse die extreme Rechte in der Homo-Szene salonfähig macht. Neben der traditionell rechtslastigen Kölner First, die im Oktober 1998 einen großen Werbe- und "Toleranz"-Artikel für die Nazi-Kapelle Böhse Onkelz veröffentlicht hatte, wurde auch Queer kritisiert.
Als Rosa Zone mit klar linker Ausrichtung gegründet und nach seiner Professionalisierung zum Leitorgan der schwulen "Neuen Mitte" avanciert, hatte das Blatt in den letzten Monaten nicht nur unverhohlen dem Konservatismus in Gestalt des Schwulenverbandes (SVD) bis hin zu den neugegründeten "Lesben und Schwulen in der Union" (LSU) gehuldigt. Im November, als sich die Reichspogromnacht zum 60. Male jährte, war das Portrait eines sich als "konservativ und patriotisch" bezeichnenden schwulen Skinheads erschienen, der "aber kein Nazi" sei; im Dezember hatte Queer ihren Lesern in einem Beitrag über einen "italienischen Trickbetrüger" das Klischee vom kriminellen Ausländer serviert.
Der explizit linke Teil der Szene hingegen findet insbesondere seit dem in der bürgerlichen Schwulenszene euphorisch begrüßten Wahlsieg von SPD und Grünen in Queer, wie anderswo auch, allenfalls in negativem Kontext Erwähnung. Die politische Distanzierung ist unübersehbar; sie folgt der Logik der Rechtsdrift aller etablierten Parteien und der ihr ideologisch nahestehenden Gruppierungen.
Daß der Queer-Chef als Gegenbeispiel zum von Stedefeldt aufgezeigten Trend die "Gedenkveranstaltungen in KZ-Gedenkstätten" mit den "dazugehörenden antifaschistischen Reden" anführt (welche sollten sonst dort gehalten werden?), zeugt eingedenk der Walser-Bubis-Debatte bestenfalls von Weltfremdheit. Denn mittlerweile werden auch diese vom Geschichtsrevisionismus der "Neuen Mitte" heimgesucht; ausgerechnet hier die Beispiele wider den Rechtsruck erkennen zu wollen, ist schlichtweg absurd: Er dokumentiert sich gerade in der Aneignung der äußeren Form durch die Bürgerlichen unter Negierung des wesentlichen bildungspolitischen Inhalts, nämlich der Charakterisierung der grundsätzlichen gesellschaftlichen Verhältnisse, die den Massenmord ermöglichten und die keinesfalls perdu sind.
Was 1994 als "Homo-Bitburg" in die Geschichte einging: die Kranzniederlegung schwuler Funktionäre von Sozialdemokratie und Grünen an der Opfer und Täter gleichsetzenden Neuen Wache in Berlin, erweist sich zunehmend nicht mehr als Höhe-, sondern vor allem Ausgangspunkt einer neuen, entpolitisierten und entpolitisierenden schwulen Gedenkkultur. Jenes "Homo-Bitburg" findet diesmal jedoch ohne den damals bundesweiten Protest im Januar 1999 seine Fortsetzung im Aufmacher des Berliner Stadtmagazins Siegessäule (das übrigens Stedefeldts Buch "Schwule Macht" unter der Junge-Freiheit-tauglichen Überschrift "Antifa-Phantasien" verriß). Zur formalen Illustration dieser Kontinuität wird die Neue-Wache-Inschrift auf die Frontpage gehievt und zwar kommentarlos. "1933: Ende einer Subkultur. Gedenktag am 27. Januar" lautet das Titelthema, zu dem die Inschrift angeblich passen soll; so hebt man faktisch nicht die Vernichtung von 5.000-15.000 Menschen als erinnerungswürdiges Ereignis heraus, sondern und das liegt in der Konsequenz eines in seiner wirtschaftlichen Existenz allein auf das einschlägige Kleingewerbe bezogenen Anzeigenblattes die einer kommerziellen Szene. "Auch möchten wir mit der Titelgeschichte an die Ausmerzung der Berliner homosexuellen Subkultur der 20er Jahre erinnern", heißt es im Editorial unmißverständlich.
Abgesehen vom obszönen Gebrauch des die Ermordung von Menschen beschreibenden Nazi-Terminus' "Ausmerzung" in bezug auf die Zwangsschließung von Lokalen, erschreckt vor allem die Inszenierung der Kranzniederlegung im ehemaligen KZ Sachsenhausen als szenetypisches Event. "In Zusammenarbeit mit dem Reiseveranstalter SpritzTOUR" für den mittels "product placement" geworben wird lädt das Markenerzeugnis Siegessäule ein wie sonst zu lustigen Tupper-Party-Touren durch brandenburgische Dörfer: "Am Gedenktag haben wir eine Busfahrt nach Sachsenhausen organisiert und fänden es toll, mit möglichst vielen von euch an die Opfer erinnern zu können."
Beim Tollfinden bleibt's nicht. So schlagen kommerzielle Form und muntere Sprache voll auf den Inhalt der Titelstory durch. Ohne erkennbare Leitthese jener vom Ende einer Subkultur wird durch Nennung einiger Lokale genüge getan , präsentiert sie ein merkwürdiges Potpourri aus Fakten und populären Statements wie "Die Nazis nahmen die Frauen einfach nicht ernst". In diesem Kontext diskutiert die Autorin Andrea Roedig über zwei Abschnitte hinweg ernstlich, ob lesbische Frauen überhaupt Opfer des Nazi-Regimes waren. "Ich bin selbst Betroffener des § 175 und es regt mich einfach auf, wenn Lesben einklagen, sie seien Verfolgte gewesen. Das ist absoluter Quatsch", zitiert sie Joachim Müller vom Schwulen Museum (ohne mitzuteilen, daß Müller erst in der BRD § 175-Opfer war). Das alles wird behandelt, als ginge es darum, aus der Identitätsgemeinschaft mit den Opfern einen persönlichen Surplus zu ziehen.
Überdies füllt Roedig in einem Akt der Selbstdiskriminierung die neue lesbisch-schwule Gedenkkultur mit jenem Mindestmaß an Homophobie, ohne das sie keine Gnade vor den Arrivierten findet: "Zu einseitig ist auch die Sichtweise der Schwulen und Lesben als Opfer. Ihre Geschichte in den Reihen der Täter ist noch nicht aufgearbeitet und es fehlt in der Szene bislang eine ehrliche und differenzierte Auseinandersetzung mit der homoerotischen Attraktivität von NS-Ritualen." Als ob die Tatsache der Verfolgung dadurch entwertet würde, daß andere Schwule unentdeckt in das NS-Regime verstrickt waren bzw. heute an dessen Ästhetik Gefallen finden.
Die rückhaltlose Anpassung an das, was heute, um den Eintritt in die etablierte Gesellschaft nicht zu gefährden, als würdiges Gedenken gelten darf, zeigt sich nicht zuletzt in der inhaltlichen Ausgestaltung des 27. Januar in Sachsenhausen: Die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, zitiert die Siegessäule Jürgen Bieniek von der Vorbereitungsgruppe, tue sich schwer mit dem Begriff "schwul". Weshalb man untertänigst die Idee verwarf, den Film "Bent" in diesem Rahmen zu zeigen. "Wir", steht da tatsächlich, "Wir hatten Bedenken wegen der Sexszenen", so Bieniek gegenüber der Siegessäule, "die Stiftung hätte den Film sicher nicht passend gefunden." Als passend hingegen empfinden es die Veranstalter um jenen Bieniek (der im von ihm redigierten Gay Express 1/99 die DDR als angeblich antifaschistisch denunziert), "seine Solidarität mit den schwulen Opfern" vor Ort mit jenem Symbol zu bekunden, das im Zeichen des Standorts Deutschland die Homosexuellen vor allem als Kundengruppe definiert und anlockt: "Unsere Empfehlung für alle: Regenbogenfahnen." Kränze und Blumengebinde dürfen allerdings "von schwuler Seite" nur "fünf bereits festgelegte Gruppen" ablegen. Deren Namen und wer sie nach welchen Kriterien ausgewählt hat, verschweigt die Siegessäule.
Für die auf Linie getrimmte, nach weitgehender Integration in den nationalen Mainstream, nach "Normalisierung" strebende gay community gilt letztlich auch in bezug auf ihre eigene Verfolgung, was ein Thesenpapier von Mitgliedern des Berliner Bündnisses gegen IG Farben für "die Deutschen" nach dem "linken" Regierungswechsel formuliert: "Sie richten (aber) die deutsche Geschichte und damit den nationalen Auftrag neu ein (...) Sie werden die Klage über die ermordeten Jüdinnen und Juden mit dem Hinweis zu kombinieren wissen, daß die Mehrheit der Berliner Kaufhäuser bis 1933 Juden gehört hat."
Georg Klauda
*
Eike Stedefeldt
Die junge Freiheit der Andersliebenden
Konservatismus und nationaler Konsens. Daß bürgerlichen Homosexuellen die historische Sensibilität abhanden kommt, macht extreme Rechte salonfähig
Mitte August letzten Jahres bat Wolfgang Eckstein vom Stuttgarter Radiomagazin schwulFUNK bundesweit lesbisch-schwule Gruppen um Recherchehilfe zum Thema "Schwule Faschisten". Anlaß war ein Inserat aus dem Kölner Schwulenblatt First: "Raum 1. Männlichkeit, Disziplin, Gehorsam, Zucht, Härte, Kameradschaft, Treue, Gesinnung, Reglement. Einer für alle, alle für einen. Einordnung, Unterordnung, Kontrolle, Geist und Körper. Drill, Training, Dienst, Auslese der Besten, Wachsen an der Aufgabe. WIR, Glatze, Docks, Schnürung weiß, 505, 501, Camouflage, Fred Perry, Hosenträger, Keltenkreuz. Keine Beliebigkeit, kein Spiel. Vielleicht DU?" Man habe, so Eckstein, "den Eindruck, daß sich im Moment immer öfter Faschisten in schwulen Kontaktanzeigen mehr oder weniger verklausuliert outen". Die Beobachtung war richtig. Was die Anfrage nicht beinhaltete war jedoch, daß und wie sich schwule Anzeigenblätter zu deren Komplizen machen.
Als im November 1996 die ebenfalls in Köln edierte Box eine Kleinanzeige druckte, deren glatzköpfiger Absender sich mit ausgestrecktem rechten Arm an "Kameraden" wandte, löste dies eine längere Debatte aus, welche die Redaktion kurzerhand unter das Motto "Zensur" und nicht etwa "Schwule Neonazis" stellte. Zum Vorschein kam eine beachtliche Toleranz seitens der Leser. "So weh es tut: Auch rechte Schwule müssen Anzeigen aufgeben dürfen. Denn wo das Wort verboten würde, genau dort finge die Unfreiheit an, die man vorgibt (durch Zensur!) zu bekämpfen", so ein Berliner, der sich mit der Bemerkung "Freiheit ist immer noch die Freiheit des anders Denkenden" ausgerechnet auf Rosa Luxemburg berief. Ein Bochumer befand, Toleranz heiße "immer auch Toleranz mit dem Intoleranten, dem Dummen, so schwer das auch fallen mag". Es gebe "gelegentlich Leute, die einen faschistoiden Selmon (sic!) von sich geben (...) Auch hier sollte man gelassen bleiben", forderte ein Mann aus Heidelberg. "Es ist mir auch lieber, wenn ein Nazi mit seinem Freund beglückt im Bett liegt, als wenn er frustriert herumirrt und Häuser anzündet." Daß sie letzteres vor oder nach der gegenseitigen Beglückung dennoch tun könnten, kam dem Schreiber offenbar nicht in den Sinn.
Die Meinung der Box selbst war von Anfang an klar. In der nächsten Ausgabe wies Redakteur Martin Bober alle zurecht, die die Skinhead-Anzeige moniert hatten: "Wer aber beim Anblick eines erhobenen Armes immer gleich an Hitler denkt, sollte bedenken, daß er sich auch irren könnte." Nur wo Nazi drauf steht, ist auch Nazi drin? Er habe in Meyers Lexikon nachgeschaut, so Bober, "und fand, daß ein korrekter, eindeutiger Hitlergruß auf dem beanstandeten Bildausschnitt den Arm mindestens bis ans Handgelenk abgebildet hätte. Vielleicht hängt der Beklagte doch am Flaschenzug?" Daß dieser sich zudem an "Kameraden" wandte, ließ Bober nicht gelten: "Kameraden gab es nicht nur im Krieg. Nicht jeder kahlrasierte Kopf gehört einem Skinhead", schulmeisterte er ungeachtet eines eindeutigen Fotos seine Kritiker, die "offensichtlich nicht für sich selber entscheiden können, was sie lesen möchten und was nicht. Sie rufen unverhohlen nach dem Zensor, damit wir ihnen vorenthalten, was sie nicht sehen wollen (...) Das ist Pressefreiheit, das ist auch schwule Freiheit, und die beinhaltet die eigene Freiheit, aus dem Angebot auszuwählen, Dinge, die einen stören, beleidigen, einfach zu überlesen."
In der Verharmlosung des bzw. Nichtbefassung mit dem Neofaschismus unter dem Signum "Verteidigung demokratischer Freiheiten" seien es nun Intimsphäre, Meinungs- oder Pressefreiheit tritt am krassesten der stärker werdende Mangel an Geschichtsbewußtsein eines Bevölkerungsteils zutage, der eindeutig zu den Opfergruppen im "Dritten Reich" zählte. Dieser Bewußtseinsverlust korrespondiert mit zweierlei: Der kritiklosen Einordnung in den allgemeinen Wertekanon (Homo-Ehe, Schwule in der Bundeswehr) sowie der fehlenden klaren Abgrenzung nach rechts durch die Wortführer der Schwulenbewegung, zu welcher sich die schwulen Medien selbstverständlich zählen. So häufig rechte Gewalt gegen Schwule thematisiert wird, so selten wird sich mit der Diffusion rechten Gedankengutes in die eigene Klientel auseinandergesetzt. Neofaschismus wird weitgehend als äußeres Problem wahrgenommen und behandelt, obwohl es Einfallstore vor allem in den Grauzonen schwuler Sexualkultur längst gibt.
Die Resultate werden zunehmend in der Szenepresse sichtbar. So druckte das Forum der Jugend im Schwulenverband in Deutschland (2/97) kommentarlos einen "Witz" ab, der mit Sexismus, Antisemitismus und Rassismus gleich von drei konstituierenden Elementen der "selbstbewußten Nation" zehrt: "In Frankfurt fand der erste Nymphomaninnen-Kongreß statt. Nach der Tagung sitzen zwei der Damen an der Bar. Sagt die eine: Wußten Sie schon, daß die Indianer den größten haben sollen? Darauf die andere: Nein, wußte ich noch nicht, aber wußten Sie, daß die Juden am längsten können sollen? Darauf nähert sich den beiden ein Herr, der das Gespräch verfolgt hat. 'Gestatten die Damen, mein Name ist Winnetou Rosenthal!'"
Der herausgebende Schwulenverband (SVD) hat sich davon nie distanziert, obwohl sein ranghöchster Sprecher, das grüne MdB Volker Beck, sich gern zum Sachwalter "vergessener" NS-Opfer stilisiert und sein Partei- und Verbandsfreund sowie Bundestagsmitarbeiter Günter Dworek im Beirat des Härtefonds für NS-Verfolgte des Landes NRW sitzt. Dworek hatte 1994 auch eine vom SVD geplante Kranzniederlegung an der Neuen Wache in Berlin verteidigt, die ob des geschichtsrevisionistischen Gehalts der Adresse eine bundesweite Gegenkampagne "Ein würdiges Gedenken den homosexuellen NS-Opfern" provoziert hatte. Letztlich landete das Gebinde ohne SVD-Schleife symbolträchtig neben einem der REPs zum 17. Juni. Mit diesem "Homo-Bitburg" hatte der SVD den anti-nationalen Konsens der NS-Opfergruppen durchbrochen und die Neue Wache faktisch als ihre erste politische Vertretung offiziell zum legitimen Ort des Gedenkens erhoben.
"Ich stamme nicht aus Berlin und kann beim besten Willen nicht verstehen, warum das Brandenburger Tor hier so umstritten ist", bat am 2. Juli 1998 bei einem Nachbereitungstreffen zum Christopher Street Day (CSD) Bernd Offermann, Büroleiter des Szenemagazins Siegessäule, um Aufklärung. Denn seit Jahren schon suchen linke Lesben und Schwule, das Brandenburger Tor aus der CSD-Route zu kippen. An besagtem Termin wäre daran beinahe das vorbereitende CSD-Gremium zerbrochen: Das Brandenburger Tor sei das Symbol aggressiven Deutschtums schlechthin, so die Argumentation der Linken, und man begebe sich mit dem kommentarlosen Durchmarsch zwangsläufig ins revanchistische Fahrwasser. Aber weder, daß es Vertriebenenvereinen als Sinnbild ihrer Gebietsansprüche gilt noch daß 1989/90 gerade dort der patriotische Einheitstaumel sich austobte, ließen die schwulen Bürger gelten. Statt mit dem Wissen, daß schon 1920 die berüchtigte rechtsradikale Marine-Brigade Erhardt unter Kapp und von Lüttwitz mit Hakenkreuzen wider die Republik hindurchparadiert oder es ab 1938 Juden verboten war, das Tor zu passieren, brillierte ein SVD-Mann mit dem Hinweis, es hätten auch schon Olympioniken in friedlicher Formation durchquert. Welche Fahne damals über dem Tor wehte, konnte er wohl nicht wissen.
Den vorerst letzten Tabubruch besorgte die eingangs erwähnte First ein Blatt, für das mit Jürgen Neumann lange Zeit ein 1971 wegen Homosexualität ausgeschlossener NPD-Mann schrieb. "Ich möchte mich hier ja nicht zum Propagandaminister der Onkelz aufspielen", teilt Musikredakteur Nicolas D. Lange in der Oktober-First den Lesern mit, tut dann aber in seinem Halbseiter genau dies. Die Böhsen Onkelz wiesen "eine sehr unschöne Vergangenheit" (!) auf, täten aber "alles, um sich von dieser fehlerhaften Periode ihrer Schaffenszeit zu distanzieren". Weshalb Lange Nachsicht mit der Nazi-Kapelle fordert: "Gerade 'wir' sollten nicht verbohrt sein", mahnt er; weil "wir" alle homosexuell sind, müßten "wir" uns "genauso tolerant und offen, wie man es für sein Leben selbst verlangt, mit der Band beschäftigen". Vorbei seien die Zeiten, "in denen hohle und blinde Parolen ins Mikro geschmettert wurden". Die Texte der "geläuterten" Musiker sprechen eindeutig dagegen, sie hetzen munter weiter gegen die Antifa, und ihre Konzerte sind noch immer reine Glatzenaufläufe. First wirbt indes offen für das Album "Viva Los Tioz" und verlost sogar drei CDs.
Eine Stellungnahme des "Marktführers in Sachen Schwulenpolitik", wie sich der Schwulenverband in Deutschland tituliert, blieb zu diesem Skandal ebenso aus wie die Distanzierung der größten deutschen Homo-Zeitung Queer von einem Satz, mit dem ihr Kolumnist Michael Sollorz im Juni 1998 den Status von Tabakkonsumenten in den USA qualifizierte: "Mir mißfällt als Kettenraucher die Rolle des neuen Juden." Statt dessen liest man in der November-Ausgabe von Queer nicht etwa einen Beitrag zur Erinnerung an die Reichspogromnacht vor 60 Jahren, sondern das Porträt eines glattrasierten schwulen "Berliner Kopfes". Der Assistenzarzt, 27, trägt in den Schnürstiefeln die schwarzen Senkel der weder linken noch rechten Skins, hält sich selbst für "konservativ und patriotisch", ist laut Redaktion "aber kein Nazi". Sein Outfit sei "auch ein Zeichen gesellschaftlichen Protests" wogegen er protestiere und mit welchem Ziel erfragt der Interviewer nicht. "Beim Sex scheinen Skins etwas Besonderes zu sein" erfährt man indes, und daß "unter den Glatzen ein stärkeres Miteinander herrsche als sonst in der 'so oberflächlichen Schwulen-Szene'". Nur wegen des Outfits?
Zum 50. Jahrestag der Befreiung des KZ Sachsenhausen beklagte Raimund Geene 1995 im Freitag die zunehmende Tendenz zur Geschichtsrevision. Er fürchtete, daß "eine Art Schlußstrich unter den NS-Terror gezogen werden soll. Eine allgemeine, entpolitisierte Bilanz von Kriegen und Unrecht im 20. Jahrhundert wird folgen, die auf mangelndes Differenzierungsvermögen setzt. (...) Eine neue Begriffslosigkeit deutet sich an, auch unter Schwulen", so Geene. "Die geplante (und schließlich in kleinerem Umfang auch durchgeführte) Kranzniederlegung an der 'Neuen Wache' anläßlich der letztjährigen Christopher-Street-Demonstration war ein Indiz." Drei Jahre später liegen zahlreiche Beweise vor.
Erstmals erschienen in Freitag 50/98, 4. 12. 1998. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors