"Der Lesben- und Schwulenverband ist unser politischer Gegner"
Ein Gespräch mit Jürgen Nehm, Bundessprecherin des wiedergegründeten wissenschaftlich-humanitären komitees (whk)
Im Interview mit Dirk Ruder
Im letzten Herbst gründete sich in Berlin das wissenschaftlich-humanitäre komitee (whk) neu, dessen maßgeblicher Initiator und erste Bundessprecherin du bist. Das historische WhK hatte sich vor über hundert Jahren , im Mai 1897, unter Magnus Hirschfeld konstituiert. Warum diese Wiederbelebung? Und warum erst jetzt?
Die Frage, warum das whk erst jetzt wiederentstanden ist, müßte an die Lesben- und Schwulenbewegung gerichtet werden, nicht an uns. Wir haben diesen Bedarf einfach gesehen. Natürlich treten wir die Nachfolge nicht mit dem WhK-Programm von vor hundert Jahren an, sondern mit einem eigenen Konzept, das sich allerdings auf fortschrittliche Traditionen des Weimarer WhK bezieht. Die Erkenntnisse Magnus Hirschfelds beruhten ja nicht nur auf der überholten biologistischen Vorstellung vom Dritten Geschlecht. Hirschfelds Ansicht, daß Sexualität als identitätsstiftendes Merkmal Wesen und Charakter eines jeden Menschen nachhaltig beeinflußt, gilt natürlich auch heute noch. Programmatik und Politik des alten WhK waren in vielen Bereichen erfolgreich und revolutionär und wir sind stolz darauf, die ersten zu sein, die sich wieder so nennen.
Nicht ganz. Bereits 1949 unternahm der Frankfurter Mediziner Hans Giese den ersten Versuch, das vom Faschismus zerschlagene WhK wieder aufzubauen. Der Versuch überdauerte nur wenige Monate, weil der Eintrag ins Vereinsregister verweigert wurde ...
Da gibt es durchaus Kontinuitäten. Wir versuchen seit letztem Herbst unseren Verein in Berlin-Charlottenburg dort, wo auch das historische WhK angemeldet wurde ins Vereinsregister zu bekommen. Bislang wurde das mit allen möglichen Einwänden immer wieder abgelehnt. Ich bin Jurist und in der Gründung von Vereinen nicht unerfahren, aber so etwas habe ich noch nie erlebt.
Ich denke, die Versuche der 50er, 60er Jahre scheiterten auch, weil es so gut wie gar keinen Rücklauf gab. Zwar hatte das Giese-WhK auch die Abschaffung des § 175 zum Ziel, aber es bestand ausschließlich aus Mitstreitern des alten WhK der Weimarer Zeit. Eine jüngere Generation konnte es, wegen des bis 1969 bestehenden Totalverbots der Homosexualität, noch gar nicht geben: Der §175 existierte ja noch in der Nazi-Fassung. Die studentische Schwulenbewegung später hatte dann ganz andere politische Ansätze als die Auseinandersetzung mit den etablierten Parteien. Sie verstand sich vielmehr als Teil einer revolutionären Weltbewegung.Und wo liegen die Wurzeln des neuen whk?
Wir bekennen uns sowohl zu den fortschrittlichen Strömungen des Weimarer WhK der Name Kurt Hiller wäre hier beispielsweise zu nennen , zu den nach dem Ende des Faschismus gemachten Erfahrungen, aber auch zu den Traditionen des emanzipatorischen Schwulenbewegung von 1969 bis etwa Anfang der 80er Jahre.
Bekennt sich das whk auch zum Grundstück des WhK-eigenen Instituts für Sexualwissenschaft, das im nunmehrigen Berliner Regierungsviertel unweit des zukünftigen Kanzleramts liegt? Immerhin eine hübsche Immobilie ...
Einen Rechtsstreit um das von den Faschisten enteignete Grundstück das Gebäude wurde ja zerstört würden wir mit Sicherheit verlieren. Nicht nur, weil es sich um das Regierungsviertel handelt, sondern weil auf dem Areal heute das Haus der Kulturen der Welt steht, das die Amerikaner einst West-Berlin schenkten. Aber darum geht es uns auch gar nicht.
Die kommerzielle schwule Presse hat auf euch sehr gereizt reagiert. Von "Etikettenschwindel" und "Hochamtsanmaßung" war da die Rede, mancher Schreiber ortete sogar einen "Fall für die Verbraucherschutzzentrale". Hat die sich schon gemeldet?
Den Etikettenschwindel gibt es nicht. Das whk, das alte wie das neue, ist kein "Etikett" oder irgend etwas Unantastbares, sondern eine programmatische Angelegenheit: Eine bundesweite Vereinigung von homo-, bi-, trans- und intersexuellen Menschen. Derartiges existierte seit Bestehen der Bundesrepublik überhaupt nicht, aber eine solche Organisation war selbstverständlich das Weimarer WhK. Insofern verstehen wir uns als direkte Nachfolgerin. Wenn der Chefredakteur von Queer, Christian Scheuß, das whk in Anführungszeichen schreibt, so wie die Springer-Presse einst die DDR, dann ist das natürlich ein ganz klares politisches Signal: Es wird eine "Mogelpackung" so formulierte Scheuß das behauptet, die man dann wortreich bekämpft. Die ganze Aufregung um das whk kam nicht aus der linken, emanzipatorischen Ecke, sondern nur aus der bürgerlichen. Linke kritisierten unser whk-Label interessanterweise als zu defensiv.
Die Verärgerung der schwulen Bürgerrechtsbewegung rührt sicher auch daher, daß sie sich in den letzten Jahren verstärkt und explizit in der paradigmatischen Ausstellung "Goodbye to Berlin. Hundert Jahre Schwulenbewegung" vor zwei Jahren in der Berliner Akademie der Künste auf das WhK als Ausgangspunkt einer schwulen Bewegung berufen hat. Stonewall Riot als die Erinnerung an eine Straßenschlacht gegen die bestehende staatliche Ordnung war ihnen immer äußerst unangenehm, weswegen sie es zum unpolitischen Karneval umfunktionieren mußten. Das WhK als diskret arbeitender Lobbyverein respektabler Herren bot einen viel günstigeren historischen Bezugspunkt ...
Ja, und wir haben uns das WhK zurückgeholt, das ärgert sie natürlich.
Es ist auffällig, wie sehr fortschrittliche Aspekte des Weimarer WhK in der historischen Betrachtung unterschlagen werden. Vor 1918 trommelte die Vereinigung, namentlich Hirschfeld, für das Frauenwahlrecht und davon ist die Deutsche Aids-Hilfe heute weit entfernt die Verstaatlichung der Pharmaindustrie. Die Revolution hat Hirschfeld emphatisch begrüßt, was Schwulenhistoriker gern in eine Ergebenheitsadresse an die damalige SPD-Regierung uminterpretieren. In wieweit versteht sich das neue whk als Teil einer revolutionären, sozialistischen Bewegung?
Natürlich berufen wir uns auf diese fortschrittlichen Aspekte, die man ja konkret zuordnen kann. Ich nenne nur Richard Linsert, ein führendes Mitglied des WhK, der in der Weimarer Zeit Redakteur bei der Roten Fahne, dem Zentralorgan der KPD, war.
Das neue whk bezieht sich zu allen sozialen, sozialistischen und humanistischen Bewegungen, aber wir würden uns nicht sozialistisch-revolutionär einordnen, weil es in dem Bereich Schattierungen und Strömungen gibt, die miteinander nicht kompatibel sind oder sich sogar gegenseitig ausschließen. Wir wollen in erster Linie als eigenständige Organisation innerhalb lesbisch-schwuler und sexualemazipatorischer Zusammenhänge agieren und da selbstverständlich auf der linken Seite.In der linken Schwulenszene kursierte seit geraumer Zeit ein von Dir verfaßtes Papier "zum Aufbau einer bundesweiten Organisation". Das whk versteht sich indes explizit als Assoziation, d.h. als ein loses Netzwerk unabhängiger Gruppen. Eine Konsequenz aus der allgemeinen homosexuellen Vereinsmeierei und dem gänzlichen Zusammenbruch emanzipatorischer Strukturen mit dem Ende des Bundesverbands Homosexualität (BVH)?
Sicher. Zum Niedergang des BVH und letztendlich zur Frage, warum wir das whk gegründet haben sollte ich vielleicht die Entwicklung der letzten Jahre noch einmal kurz skizzieren: In den achtziger Jahren wurde die emazipatorische Schwulenbewegung durch eine zunehmende Institutionalisierung abgelöst. Lesben und Schwule, vornehmlich Schwule, gründeten eine Vielzahl vom Staat anerkannter gemeinnütziger Vereine. Dann wurde, als Zusammenschluß und Dachverband dieser Gruppen, der BVH gegründet, während die Lesbenbewegung bis heute mit der feministischen Frauenbewegung eng verbunden ist. Der BVH ist 1996 aufgelöst worden. Die Politik des BVH bewegte sich in direkter Auseinandersetzung mit der des damaligen SVD, der 1990 zunächst als Schwulenverband in der DDR enstanden war. Nichtsdestotrotz ist die SVD-Geschichte unmittelbar eine Geschichte des BVH: Volker Beck, Manfred Bruns und Günter Dworek sind Leute, die mehrere Jahre im BVH aktiv waren, dort aber, wie sie das nannten, "keine Mehrheiten organisieren" konnten. Sie haben dann den SVD mehr oder weniger übernommen und ihm das Label Bürgerrechtspolitik verpaßt, das der BVH und übrigens auch der Lesbenring nicht hatten. Der BVH ist also nicht aus inneren Widersprüchen überflüssig geworden, sondern durch die objektive politische Lage. Er wollte eine Bewegung verbinden, die es so nicht mehr gab.
Das whk will diese emanzipatorische politische Arbeit organisieren, aber in einer deutlicheren Positionierung gegenüber dem jetzigen LSVD und der sogenannten Bürgerrechtsbewegung, als das derzeit geschieht.Du hast kürzlich, auf eine entsprechende Frage, geantwortet, ihr versteht den Lesben und Schwulenverband (LSVD) weniger als euren Konkurrenten, sondern vielmehr als politischen Gegner. Mußte das sein?
Konkurrenz bedeutet, man kämpft um einen gemeinsamen Markt dem ist natürlich nicht so. Whk-Leute würden nie in den LSVD eintreten, weil sie eine ganz andere Weltanschauung und Lebenskultur haben, die mit dem LSVD-Programm ganz und gar unvereinbar ist. Das whk wird sich immer an Leute wenden, die sich von bestehenden Strukturen und Verhältnissen emanzipieren wollen, nicht zuletzt von männlichen Strukturen. Für uns ist Feminismus kein Schimpf- oder Fremdwort und Politik nicht gleich Bundestag. Wir haben, anders als der LSVD, eine klare pazifistische Grundhaltung. Und wir sind gegen die Homo-Ehe, in der wir ein Abhängigkeitsverhältnis erkennen. Die Homo-Ehe bedeutet eine Normierung von Partnerschaften und eine Ausweitung der Eheprivilegien auf einen begrenzten Kreis von Menschen die wir nicht wollen. Das ist unsere Gegnerschaft zum LSVD. Der LSVD betreibt die Homo-Ehe, und mittlerweile gewinnt man den Eindruck, es gibt ihn nur noch deshalb.
So schlecht geht es der Bürgerrechtsbewegung gar nicht. Für die derzeit laufende Homo-Ehe-Kampagne ließ der Verein erst kürzlich 75.000 DM (ca. 37.500 Euro) springen, und der gemeinsame Ehewunsch hat aus dem ehemaligen Schwulenverband SVD im Frühjahr den Lesben- und Schwulenverband LSVD gemacht ...
Man hat sich sozusagen ein L dazu gekauft. Die Lesben wurden, wie es hieß "mit ins Boot geholt" und in dem werden sie wohl auch mit untergehen. Und was heißt eigentlich Bürgerrechtsbewegung? Bürgerrechtsbewegung bedeutet, daß ich mich als Bürger des Staates verstehe und meine Rechte einfordere. Das ist doch eine Selbstverständlichkeit, deshalb muß ich mich nicht so definieren! Das Einklagen bürgerlicher Rechte hat etwas sehr Niederes, Unterwürfiges. Es ist immer von Konservativen betrieben worden, nie von Linken die wollten immer mehr.
Der LSVD leitet seinen Bürgerrechtsbegriff immerhin aus der kirchlichen Widerstandsbewegung der DDR und der Schwarzenbewegung in den USA ab was ist dagegen einzuwenden?
Ich halte das für sehr weit hergeholt, denn zur US-Bürgerrechtsbewegung gibt es von Seiten des LSVD überhaupt keine Anknüpfungspunkte. Die Bürgerrechtsbewegung der DDR hat ihre Sternstunden gehabt, als die DDR schon BRD war. Sie hat mitgeholfen, daß dieses Land von der Karte verschwand was, wie ich finde, nicht unbedingt das verkehrteste war. Allerdings muß man fragen, was heute von dieser Widerstandsbewegung unter dem Dach der DDR-Kirchen übrig geblieben ist: Viele ehemalige DDR-Bürgerrechtler sind heute in der CDU gelandet. Das zeigt, welche ideologische Haltung diese Leute haben. Ich meine: Wenn sich die LSVDler als Bürgerrechtler in einem Staat begreifen, sie den Staat aber nicht angreifen, dann bekommt die Angelegenheit doch einen sehr merkwürdigen Beigeschmack.
Also ran an die Gesellschaft mit dem whk?
In einer dermaßen zerissenen Gesellschaft, in der für viele Menschen ein normales Leben gar nicht möglich ist, weil sie ihre Wohnung verlieren, weil sie aufgrund ihrer sexuellen Identität diskriminiert oder wegen ihres Krankheitsstatus´ benachteiligt werden, kann man nicht einfach nur "Bürgerrechte" einfordern. Man muß vielmehr die ökonomischen Bedingungen, die dazu führen, handfest in Frage stellen. Das whk geht zentral an die Frage heran, ob die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen etwas mit Sexualpolitik zu tun hat eine Frage die zu bejahen ist. Das bedeutet: Die verschiedenen Formen der Ausbeutung als ursächlicher Bestandteil herrschender Verwertungskriterien und sozialer Bedingungen müssen analysiert und bekämpft werden.
Stichwort Analyse: Die unregelmäßig erscheinenden "Positionen des whk" sind mittlerweile zum Schrecken der Szene avanciert und haben euch bereits den ersten Gerichtstermin eingebracht. Ob die Banalisierung der Schwulenverfolgung im 'Dritten Reich' oder die Gleichschaltung der kommerziellen Homo-Presse thematisiert wird das whk teilt ganz schön aus ...
Ja, und das werden wir auch in Zukunft so halten. Wir wollen Kritiker sein und versuchen, den Prozeß, der da abläuft, möglichst aufzuhalten. Das geht nur, wenn wir selber Positionen klar machen. Ein Beispiel: In Sachsenhausen gab es in diesem Jahr eine Gedenkveranstaltung für die homosexuellen Opfer des Faschismus. Das Berliner Szeneblatt Siegessäule publizierte dieses Ereignis im Vorfeld sehr eigentümlich. Auf dem Cover war die Gedenktafel der Neuen Wache in Berlin abgebildet, die Gedenkanlage der Bundesrepublik Deutschland. Gegen die Einrichtung dieser höchst umstrittenen Neue Wache haben Schwulengruppen, Verbände anderer Opfergruppen und ihre Medien seinerzeit heftigst protestiert, übrigens auch die Siegessäule. Offenbar hat das Blatt inzwischen die Seiten gewechselt. Im Artikel zum Cover hieß es, der schwule Reiseveranstalter Spritztour biete eine Fahrt zu dieser Veranstaltung, man möge doch bitte zahlreich daran teilnehmen. Tenor: Kommt alle hin, nehmt euch Regenbogenfahnen mit und wir haben viel Spaß. Viel Spaß im KZ?! Diese Frage haben wir gestellt und deshalb war dieses Flugblatt mit "Spritztour zum KZ" überschrieben. Es kann nicht sein, daß unsere Gedenkkultur als Teil einer schwulen Event-Kultur verstanden wird. Ich halte das für eine Verhöhnung der Opfer.
... womit wir beim Rechtsruck der Szene wären. Was könnte dem entgegengesetzt werden?
Man muß vor allem damit aufhören, diese Herangehensweise als "zeitgemäß" zu deklarieren. Martin Walser hat in seinen umstrittenen Äußerungen gesagt, man müsse mit dem Erinnern an den Holocaust aufhören, weil dieses dauernde Gejammere unerträglich sei. Stattdessen müsse ein neuer Weg gefunden werden. Dieses Argument ist nicht neu, sondern alt, uralt, es stammt aus den 50er Jahren. Die ganze Diskussion gibt es nur deshalb, weil man den Holocaust endlich vergessen will, der immer noch Schatten auf das Heute wirft. Man sehe sich in Deutschland die ausländerfeindlichen Pogrome an oder die Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft. In solchen Fragen machen etablierte und rechtsradikale, faschistische Parteien längst gemeinsame Sache.
... weshalb das whk im Frühjahr dazu aufrief, CDU-Unterschriftensammlungen gegen die Doppelte Staatsbürgerschaft "mit allen Mitteln" zu verhindern. Wie viele Infotische mußten dran glauben?
Wir haben aus personellen Gründen keine eigenen Aktionen durchgeführt, aber uns an anderen beteiligt, die es im ganzen Land gab. In Berlin-Kreuzberg haben junge Türken einen CDU-Infostand kurz und klein gehauen, der stand da keine zwanzig Minuten. Ich kann die Wut der Leute verstehen, auch wenn für mich als Pazifist solche Aktionen natürlich nicht in Frage kommen. Anderswo hat man einfach Brot auf die Tische geworfen, nach ein paar Minuten hatten die Tauben alles vollgekackt.
Eine der ersten whk-Aktionen im November '98 unterstützte die damals von der Abwahl bedrohte transsexuelle Quellendorfer Bürgermeisterin Michaela Lindner. Keine einzige Organisation des lesbisch-schwulen Spektrums hat sich damals schützend vor Lindner gestellt. Wie kam es zu eurem Engagement?
Wir hatten uns im Oktober gerade gegründet und wußten, daß Micheala Lindner sehr wenig Unterstützung in der Szene genießt, auch weil sie in der PDS ist. Wir wußten aber auch, daß sie von ihrer Partei keinerlei Hilfe bekam, mit Ausnahme von wenigen LandespolitikerInnen. Der Parteivorstand der PDS, von uns aufgefordert, Lindner zu unterstützen, hat nicht einmal reagiert. Das sprach eine ganz deutliche Sprache. Wir aber haben reagiert und innerhalb von zehn Tagen 1.048 Unterschriften gesammelt so viele EinwohnerInnen hat Quellendorf. Jeder potentiellen Gegenstimme wollten wir ein Votum für die transsexuelle Bürgermeisterin entgegensetzen. Am 29. November, dem Tag ihrer Abwahl, sind wir zu Lindner nach Quellendorf gefahren. Michaela hatte Tage mit anonymen Briefen, Anrufen und offenen Beschimpfungen hinter sich. Auf der Pressekonferenz, zu der Michaela uns einlud, unsere Unterschriftenliste zu präsentieren, mußte ich beschämt feststellen, einer von wenigen Schwulen zu sein, der sich solidarisch erklärten.
Inzwischen lebt Lindner in Berlin, fühlt sich dem whk verbunden und tritt zur Kommunalwahl im Oktober auf dem aussichtsreichen Listenplatz 1 der PDS Berlin-Kreuzberg an.
Für das whk war die Solidaritätsaktion in Quellendorf sehr wichtig. Drei Punkte unseres Programms beschäftigen sich mit Trans- und Intersexualtiät.
Ist Gigi transsexuell?
Gigi ist eine vom Förderverein des whk herausgegebene Zeitschrift für sexuelle Emanzipation so der Untertitel und daher weder noch. Aber natürlich widmet sich Gigi diesem Thema.
Nachdem wir im März zur Gründung einer sexualemanzipatorischen Zeitung aufgerufen hatten, sind die ersten zwei Ausgaben auf große Resonanz gestoßen. Derzeit gibt es in der Bundesrepublik keine Kaufzeitschrift, die mit publizistischem Anspruch lesbischwule, trans- und intersexuelle Themen behandelt. Ehrenamtlich produziert, begründet Gigi ihre Existenz nicht auf der Verwertung des menschlichen Körpers und sie spekuliert nicht auf die Dummheit ihrer Leserschaft. Inhaltlich hat sie, wie ich finde, einen ganz eigenen Charakter. Die 4 DM (2,05 Euro), die man dafür ausgibt, sollen gut angelegt sein.Ist die Bundessprecherin des whk transsexuell?
Die Bundessprecherin des whk heiß Jürgen Nehm und ist schwul. Als sexualemanzipatorische Vereinigung berufen wir uns selbstverständlich auch auf feministische Traditionen. Wir halten es da so wie die schleswig-holsteinische Stadt Eutin, wo es das Amt des Bürgermeisters nicht mehr gibt. Der Bürgermeister dort heißt Bürgermeisterin, unabhängig vom Geschlecht, und alle anderen Verwaltungsebenen benutzen nur noch die weibliche Sprachform ohne großes Binnen-I. Die "MitstreiterInnen" des whk heißen schlicht Freundinnen. Das wird zwar gelegentlich verlacht, aber wer sich mit Feminismus und Emanzipation auseinandersetzt, kommt schnell zu diesem Sprachgebrauch.
Die historische Gründung des WhK wurde bekanntlich von vier Herren vorgenommen. Stand die Wiedergründung unter einem günstigeren Geschlechterverhältnis?
[Lacht] Da waren es eine Frau und sieben Herren.
Das wäre ja immerhin eine zweifache eine Steigerung um hundert Prozent ...
Naja, inzwischen sind einige Freundinnen hinzugekommen. In vielen Bundesländern haben sich erste Gruppen gegründet bzw. Ansprechpartnerinnen gefunden, außerdem haben wir derzeit eine Unterstützerinnengruppe, die Schwule Welle bei Radio Dreyeckland in Freiburg. Politik in diesem Spektrum wird immer sehr klein sein.
Was nicht unbedingt das schlechteste sein muß ...
Eben. Beim diesjährigen CSD am 26. Juni in Berlin hat das whk sich trotz weniger Leute mit seiner Forderung nach Abschaffung der bürgerlichen Ehe durchsetzen können. Dies wurde vom politischen Arm des Berliner CSD, dem CSD-Forum, auch so propagiert. Das heißt: Auch mit wenigen Leuten sind wir in der Lage unsere Forderungen argumentativ durchzusetzen.
Da mußte LSVD-Sprecher Volker Beck in diesem Jahr wohl auf den gewohnten CSD-Auftritt in der Hauptstadt verzichten?
Ich würde gerne mal wieder mit Beck öffentlich zu diskutieren. Leider kommt er nicht zu den Veranstaltungen, auf die ich eingeladen werde. Ich weiß nicht, warum ein Bundestagsabgeordneter Angst vor einer so kleinen Gruppe wie dem whk hat. Angst ist nie ein guter Partner.
Als pazifistische Organisation hat sich das whk gar nicht zum Krieg im Kosovo geäußert. Warum?
Das stimmt nicht. Wir haben uns in den ersten beiden Ausgaben der uns nahestehenden Zeitschrift Gigi explizit gegen den Nato-Krieg geäußert und wir haben vor dem CSD in hoher Auflage Antikriegs-Plakate mit der Aufschrift: "Stoppt den Krieg!" hergestellt und geklebt. In der Berliner Szene haben uns Schwule als "Verräter" beschimpft.
Ende Mai wurde "wegen des Kriegs im Kosovo" per Presseerklärung der Kölner CSD am 4. Juli abgesagt. Nach zustimmenden Presseberichten auch in der grünen tageszeitung sah sich der organisierende LSVD zum peinlichen Dementi gezwungen, die Presserklärung entpuppte sich als Fälschung. Große Aufregung, bis die schwule Presse im Juni trotzig mitteilte: "Der CSD findet statt, bombe wer da wolle". Man hat das whk mit dieser subversiven Absage-Aktion in Verbindung gebracht. Kommentar?
Dazu kann ich nichts sagen. Wir haben, wie ich bereits andeutete, den CSD in Berlin maßgeblich mitgetragen, inhaltlich wie organisatorisch. Da steckt sehr viel Arbeit drin, ich selbst bin Moderator des CSD-Forums. Ich weiß nicht, warum wir den CSD in Köln absagen sollten.
Ging dem Pazifisten Nehm die allgemeine Kriegslaune der letzten Wochen und Monate nicht gehörig auf den Geist?
Das whk lehnt Kriege generell ab. Auch das Weimarer WhK hat sich ganz klar zum Pazifismus bekannt und gegen jeden Militarismus agitiert übrigens nicht nur den von rechts, sondern auch den der KPD. In dieser Tradition stehen wir, während weite Teile der bürgerlichen Schwulenbewegung den pazifistischen Konsens aufgehoben haben.
Schwule Soldaten, die über Diskriminierung bei der Armee klagen, müssen sich die Frage gefallen lassen, warum sie überhaupt zur Armee gehen, es wird ja niemand gezwungen. Was haben Armeen mit Emanzipation zu tun? Eine Armee ist immer gegen Emanzipation gerichtet, sie ist spezialisiert auf das Handwerk des Tötens. Einen Menschen zu töten ist nicht zuletzt gegen die Emanzipation dieser Person gerichtet. Soldaten sind Mörder, auch schwule Soldaten.Liebe verdient Respekt ...
Defensiver als dieser Slogan einer Imagekampgne des LSVD und der Polizei in Nordrhein-Westfalen geht es ja schon gar nicht mehr! Die NRW-Landesregierung hat kürzlich eine Akzeptanzkampagne gestartet, die im Vergleich dazu geradezu revolutionär klingt: "Andersrum ist nicht verkehrt". Hinter der Operation mit dem hohlen Begriff Liebe den jeder nur für sich definieren kann steckt die Verklemmtheit schwuler Spießbürger. Der LSVD würde nie fordern "Schwuler Sex verdient Repekt" das wäre ihnen viel zu peinlich.
Das Betteln um Rechte beim heterosexuellen Spießbürger wie auch jetzt wieder bei der LSVD-Aktion Ja-Wort hat noch nie etwas gebracht. Man muß an die Ursachen rangehen und das wollen sie nicht. Weil sie sich in dieser Gesellschaft, so wie sie ist, wohlfühlen. Deswegen marschieren sie beim CSD auch mit der Deutschlandfahne und dem Stadtwappen voran.Und wo marschiert das whk in hundert Jahren?
Na, da werde ich nicht mehr dabei sein. Menschen, die die sexuelle, soziale, politische Emanzipation zum Inhalt ihres Lebens machen, wird es immer geben. Was ich in diesem Kontext noch sagen möchte: Die inflationär gebrauchte Formulierung von der hunderjährigen Schwulenbewegung ist völlig unbrauchbar. Die WhKler um Magnus Hirschfeld haben sich selber ja nicht als "schwul" empfunden, wie suggeriert wird. Und während des Faschismus gab es keine Schwulenbewegung in Deutschland! Diese Zeit der Verfolgung auf die Geschichte der Bewegung anzurechnen ist absurd.
Das Interview wurde im März geführt. Auf dem ersten bundesweiten whk-Treffen im Mai wurde Dirk Ruder zur zweiten Bundessprecherin gewählt
Zur Person:
Jürgen Nehm wurde am 5. November 1963 in Friesland geboren und lebt derzeit in Berlin. Mit 15 Jahren durch ein antifaschistisches Schulprojekt politisiert, trat er 1979 in die KPD/ML, später in die trozkistische Vereinigte Sozialistische Partei (VSP) ein. Nach dem Coming out mit 19 leistete er von 1982 bis bis Mitte 1983 Wehrdienst bei der Bundesmarine in Flensburg. Die Betätigung in der Friedensbewegung, unter anderem in der Initiative "Nato-Soldaten gegen Atomraketen", brachte ihm eine Haftstrafe und die unehrenhafte Entlassung wegen "politischer Zersetzung" ein. Nehm engagierte sich in verschiedenen schwulen Projekten im Ruhrgebiet und war von 1988 bis ´95 Vorstandsmitglied des Bundesverbands Homosexualität (BVH). Mit der Wiedergründung des whk am 27. Oktober 1998 wurde er dessen erste Bundessprecherin.