Leserbrief an den Freitag

 

Alles nur Nostalgie?

In der Ausgabe vom 6. August 2004 des in Berlin erscheinenden Wochenblattes Freitag wurde der Essay "Revolution und Schweinerei" des Literaturwissenschaftlers Volker Woltersdorf über den Einfluß marxistischen Denkens auf homosexuelle Bewegungen veröffentlicht, der einen Seitenhieb auf die derzeitige Linke in der deutschen Homo-Szene, darunter das whk, enthielt. Dazu sandte der langjährige Freitag-Autor Eike Stedefeldt von der Berliner whk-Gruppe der Redaktion folgenden Leserbrief:

Betr.: Volker Woltersdorff: Schweinerei und Revolution, Freitag 33/2004

Was unterscheidet linksliberale von linken Blättern? Richtig, es sind Aufsätze wie der Woltersdorffsche über Marxismus und homosexuelle Bewegungen. Gemäß der Logik einer systemaffirmativen Kritik folgen sie einer für Liberale üblichen Struktur: Zunächst wird ausgiebig und wohlwollend die große Bedeutung "linker Flausen" referiert, um schließlich in einem einzigen Satz "vereinzelte Nostalgiker, wie die Mitglieder des Wissenschaftlich Humanitären Komitees oder die Herausgeberinnen der Zeitschrift Ihrsinn", herablassend belächeln zu dürfen, die sich "trotzig nach der Radikalität der frühen Jahre zurück" sehnten, "ohne dem Bedeutungswandel der Sexualität im Neoliberalismus angemessen Rechnung zu tragen".

Was "angemessen" sein soll, bleibt freilich im dunkeln, denn eine sachlich begründete Denunziation ist keine. "Nostalgie" als dümmster politischer Kampfbegriff erspart zudem Auseinandersetzung und Recherche. Woltersdorff weiß nicht mal, daß Ihrsinn eingestellt wurde und sich das whk (laut Eigensicht eine "Assoziation selbstbewußter schwuler Säue") im Kontrast zu Magnus Hirschfelds honorig-bürgerlicher Organisation klein schreibt. Über diese "vereinzelten Nostalgiker" erfährt der Leser nichts, außer, daß sie eben vereinzelt und Nostalgiker sind, mithin weltfremd und unbeleckt von der Dialektik gesellschaftlicher Verhältnisse wie Sex, Geschlecht und Kapital in ihren Wesenszügen wie neoliberalen Erscheinungsformen. Warum sollte er auch erfahren, daß sich ausnahmslos jedes der 33 Hefte der whk-Zeitschrift Gigi (Titelthemen hießen etwa "Tunten, Transen & Moneten", "Gay Marketing", "Spiele nur für Reiche") mit der marktkonformen Zurichtung menschlicher Sexualität befaßt? Oder Gigi die personelle wie monetäre Parteienverfilzung der Homo-Bürgerrechtsszene durch intensive Faktenrecherche belegte und dafür als bisher einziges deutsches Homoblatt einen Journalismuspreis bekam? Daß das whk die in Jahrzehnten erkämpften Freiräume autonom und damit subversiv gelebter Homosexualität gegen deren unter Rot-Grün drastisch zunehmende staatliche Repression und Zerstörung verteidigt, daß es mit diversen Bürger- und Menschenrechtsgruppen kooperiert und schwule Sexualität als Kern und Stoßrichtung des verschärften Sexualstrafrechts und einer durch keinerlei kriminologische Fakten gedeckten "Kinderschänder"-Hysterie entschleierte?

Nichts davon im Freitag (der Artikel genau dazu zurückwies) und nichts davon bei Woltersdorff. Und dieser Mann will also Wissenschaftler sein und sich im Marxismus auskennen? Bei solchem Verhältnis zur Empirie?