Junge Welt, 19.06.2004 / Wochenendbeilage
»Endlich offiziell fremdgehen«Gespräch mit Ortwin Passon über Anpassung, rechte Tendenzen und den intellektuellen Notstand in der Lesben- und Schwulenszene. Von Emanuel Nahrstedt
* Ortwin Passon ist in Berlin in der sexualpolitischen Vereinigung wissenschaftlich-humanitäres komitee (whk) und in der Redaktion der Zeitschrift Gigi aktiv, wo er hauptsächlich zu juristischen Themen arbeitet. Vor dem Hintergrund der Berliner Bewerbung um die Gay Games 2010 beziehungsweise OutGames 2009 recherchiert er aktuell vor allem zur Kommerzialisierung des Homosports
Zum »Europride« 2002 in Köln wurde an dieser Stelle das wissenschaftlich-humanitäre komitee (whk) als bundesweit einzige »sexualpolitische Assoziation freier Gruppen« vorgestellt (vgl. »Abermalige Enteignung und Verhöhnung«, jW-Beilage vom 6./7. Juli 2002, S. 4 f.). Was hat sich seither in der deutschen Sexualpolitik getan?Ach Gott, wo soll man da anfangen? Bei der Hinterbliebenenrente für männliche Soldatenbräute? Bei von dubiosen Reportern von stern bis ZDF inszenierten blutigen SEK-Einsätzen gegen vermeintliche »Kinderschänder«? Der Diskussion der Folter im Kontext von Sexualdelikten durch Spitzenpolitiker oder ihrer Befürwortung durch die Mehrheit der Bevölkerung? Bei der Verschärfung des Sexualstrafrechts oder der Schutzhaft, die 70 Jahre später »nachträglich angeordnete Sicherungsverwahrung« heißt? Bei hundert Männern, die von Spitzeln des Düsseldorfer Ordnungsamts auf öffentlichen Toiletten beim angeblichen Onanieren erwischt und mit je 250 Euro Strafe belegt wurden? Bei der geplanten Enteignung von Rosa-Winkel-Häftlingen durch eine Magnus-Hirschfeld-Bundesstiftung? Bei Reformpaketen, die für Menschen mit AIDS und HIV aktive Sterbehilfe bedeuten? Beim grünen Vorzeigehomo Volker Beck, der sein Bundesverdienstkreuz ohne mit der Wimper zu zucken bei derselben Zeremonie auf Schloß Bellevue annahm wie der Endokrinologe Günter Dörner, der jahrzehntelang versuchte, Homosexualität medizinisch auszumerzen?
Seit Jahren weisen das whk und die von ihm herausgegebene sexualpolitische Zeitschrift Gigi auf einen »kontinuierlichen Rechtsruck in der bundesdeutschen Homoszene« hin. Warum?
Weil Faschismus bekanntlich keine Ansichtssache, sondern ein Verbrechen ist. Während die zweite deutsche Schwulenbewegung bis Anfang der achtziger Jahre fortschrittlich und emanzipatorisch war, ist sie wie ein prominenter Schwulenaktivist vor Jahren in der Zeitschrift für Sexualforschung analysierte inzwischen längst tot. Die meisten ihrer damaligen Vorkämpfer haben sich von traditionell linken Forderungen verabschiedet und sind auf Anpassung fixierte Stützen unseres traditionsreichen Rechtsstaats geworden »Rechts-Staat« wollen Sie an dieser Stelle bitte mit Bindestrich schreiben. Die Reanimation unpopulär gewordener Formen zwanghafter Zweisamkeit wie die durchs Grundgesetz privilegierte Heteroehe oder, als deren teurer Abklatsch, die Eingetragene Homopartnerschaft sind typisch für den Ausverkauf von Politikansätzen, die statt Disziplinierung und Kanalisierung eher das selbstbestimmte, unkontrollierte Ausleben von Unterleibsbedürfnissen autonom agierender Individuen zum Ziel haben.
Gibt es noch andere Indikatoren?
Na klar, unzählige! Wieviel Zeit haben Sie?
Ich gebe Ihnen zwei Minuten.
Dann muß ich mich auf Exempel der letzten zwei Jahre beschränken wie den für seine rassistischen Ansichten bundesweit bekannten taz-Redakteur Jan Feddersen: Er bekommt nicht nur in der bürgerlichen Tagespresse immer wieder Gelegenheit, undemokratische Ansichten zu publizieren, sondern auch in vor dem Presserat offiziell nicht satisfaktionsfähigen, aber durchaus öffentlichkeitswirksamen Homogazetten. So prägte Feddersen den Begriff eines »arabischen Mobs«, mit dem er schon im Programmheft zum Christopher-Street-Day (CSD) 2002 den Ewiggestrigen in der Subkultur das Wort redete. Die Berliner Homopostille Siegessäule hatte daraufhin im vergangenen November Feddersens Vorgabe dankbar aufgegriffen und titelte »Türken raus!«. In gedanklicher Konsequenz genehmigten deren Verantwortliche die Lesbierin Manuela Kay und der Schwule Peter Polzer die in der Szene meinungsbildende Entwicklung und Verbreitung der Bezeichnung »Kebabgehege« für den überwiegend von Migranten geprägten Wohnbezirk Kreuzberg.
Scheinheilig orakelt der offizielle Partykalender des diesjährigen Kölner CSD hinsichtlich des im neofaschistischen Teil unserer Bürgergesellschaft wegen der Buchstabenfolge »NSDA« im Firmenlogo bestens bekannten Herrenausstatters »Lonsdale«, einem der Hauptsponsoren dieses Kommerzspektakels: »Sind das nicht die Klamotten der Skinheads, fragt man sich, und stehen die nicht irgendwie für rechte Gesinnung und Minderheitenfeindlichkeit?« Das erinnert mich an eine Ausgabe des Politmagazins Titanic, das auf der Titelseite einen gutgelaunten, strahlenden Reichskanzler zeigte mit der Überschrift »Schrecklicher Verdacht: War Hitler Antisemit?«. Nach anfänglichen »Bauchschmerzen« man kennt sowas ja aus neuerer Zeit von der Zustimmung für Bomben auf Belgrad oder dem staatlich sanktionierten Raubrittertum beim Warenhandel im Gesundheits- und Sozialwesen haben sich die Verantwortlichen entschieden, derartige Vorbehalte als »Klischees« zu verniedlichen und eine entsprechende Kooperation als »positives Zeichen für die Akzeptanz von gesellschaftlichen Minderheiten« zu verkaufen. Egal ob Homos oder Neonazis.
Zum Kölner CSD 2002 drohte die extrem rechte »Bürgerbewegung Pro Köln« noch eine Demonstration gegen »Sittenverfall« an. Zwei Jahre später wird die Partei des bekannten Neofaschisten Manfred Rouhs im offiziellen CSD-Programmheft umworben und allen Ernstes zu ihren kommunalpolitischen Absichten für Nordrhein-Westfalen befragt. Komisch, daß noch immer kein Arbeitskreis »Schwule und Lesben in der NPD« mit Propagandaständen oder Prunkwagen dabei ist. Kommt aber bestimmt noch.
Aber die sogenannte Schwulen- und Lesbenbewegung ist doch keine rechte Bewegung, oder?
Wie gesagt, sie ist zumindest politisch tot. Und seit Mitte der achtziger Jahre war sie auch keine im Zweifelsfall linke Emanzipationsbewegung mehr. Das durfte sie ja auch gar nicht mehr sein. Solange ihre Perversen den Unterschied zwischen natürlichen Bedürfnissen wie normwidrigem Ficken und konstruierten Wünschen wie denen nach Konsum und Reproduktion als antrainiert begriffen, ließen sie sich zur Kaufkraftabschöpfung und Profitmaximierung kaum benutzen. Mit solchen »Systemsäuen« als gegentrendsettender Zielgruppe konnten Paradehomos in der Mitte der Gesellschaft schlecht Karriere machen. Beides hat sich beziehungsweise wurde deshalb inzwischen »normalisiert«. Die anhaltende Hetze aus der konservativen Homoszene heraus, die das Miteinander der Angehörigen verschiedener Randgruppen vergiftet, macht deren eigentliches Ziel immer augenscheinlicher: Die Protagonisten wollen eine Hierarchisierung unter Underdogs herbeischreiben, um so bei Bedarf die jeweiligen Teilgruppen besser gegeneinander ausspielen zu können. Es ist nicht immer leicht, dagegenzuhalten, aber wir versuchen es zumindest, auch wenn wir dafür in Unkenntnis des historisch belegten Begriffs als »Ewiggestrige«, »Stalinisten« oder bestenfalls durchgeknallt denunziert werden. So wird die Gigi-Redaktion im Juli passend zum Pro-Köln-CSD den brandaktuellen Themenschwerpunkt »Homos und Neofaschismus« setzen.
Gibt es außer dem whk noch weitere sexualpolitische Institutionen, die diesen Rechtstrend kritisieren?
Ja, einige wenige Anständige, die einen glaubwürdigen Aufstand proben, gibt es schon noch. So arbeiten wir unter anderem mit manchen Schwulenreferaten in Studierendenvertretungen diverser Hochschulen zusammen. In Köln existiert ein lokales Bündnis namens »Queergestellt«, das die Assimilationspolitik von Homoverbandsfunktionären demaskiert und eine homopolitische CSD-Gegenveranstaltung namens »Offpride« durchführen wird. Auch in anderen Ballungszentren, in denen gleichgeschlechtlich Verkehrende naturgemäß stärker präsent sind, wie etwa in Berlin, Leipzig oder dem Ruhrgebiet, organisieren sich wieder verstärkt Intellektuelle, um der rückwärtsgewandten Sexualpolitik bürgerlicher Parteien das reicht farblich von NPD-Braun bis PDS-Rosa emanzipierte Alternativen entgegenzusetzen.
Finden Sie demnach in der PDS keinen Bündnispartner mehr?
(Haut sich lachend auf die Schenkel.) Seit der geschickten Entsorgung der parteilosen PDS-Bundestagsabgeordneten Christina Schenk durch aussichtslose Listenplazierung im Vorfeld der letzten Bundestagswahl stellt sich diese Frage ernsthaft nicht mehr. Zum einen entsetzen uns von faschistoiden Formulierungen geprägte interne Diskussionen der parteieigenen AG »Queer«, die konsequent eine Entsolidarisierung zwischen Lesben und Schwulen einerseits und pauschal verurteilten Pädophilen andererseits beinhalten. Während diese AG »Queer« beim Parteivorstand wohlgelitten ist, verweigert dieser nach unsäglichen Denunziationen der mit viel weiterem emanzipatorischen Horizont agierenden AG »Sexualpolitik« die Anerkennung als offizielle PDS-Arbeitsgemeinschaft. Sich auf jene zu verlassen, die fertige Antworten haben, statt auf die, welche sachkundige akute Fragen stellen, disqualifiziert die »Demokratischen Sozialisten« als Bündnispartner für echte Linke dauerhaft.
Ist das nicht zu hart? Im whk arbeiten doch meines Wissens auch PDS-Leute mit?
Richtig. Aber raten Sie mal, warum die beim whk sind und nicht in der »AG Queer«! Und fast alle haben inzwischen erhebliche Probleme mit dieser Partei, manche sind längst ausgetreten. Ist ja auch logisch. Seit dieser SED-Nachfolger in einigen Landesparlamenten das Mitmachen probt, mit Gregor Gysi den bestfrisierten Berliner Frauensenator stellte und sich engagiert bei der Zerschlagung der sozialen Sicherungssysteme durch Umverteilung zulasten der Armen und zugunsten der Reichen profiliert. Nein, eine wie auch immer geartete Zusammenarbeit mit staatstragenden Wahlvereinen würde unabhängige, dem sexualpolitischen Fortschritt verpflichtete Gruppen wie das whk kompromittieren und in der Fachwelt dauerhaft desavouieren. So etwas können wir weder den Ausgegrenzten in dieser Gesellschaft noch unseren wenigen Bündnispartnern oder auch nur unseren Mitgliedern zumuten.
Wie ist das Phänomen zu verstehen, daß die Vorstellungen der FDP bei der »Eingetragenen Lebenspartnerschaft« weitergehen als die ihrer Verursacher, also der Bündnisgrünen und Sozialdemokraten?
Gar nicht. Fakt ist: Sämtliche bürgerlichen Parteien folgen ihren rechten Überzeugungen. Sie präferieren Instrumente der Disziplinierung und Kanalisierung menschlicher Sexualitäten. Das gilt also nicht nur für die ordinäre Heteroehe, sondern auch in sämtlichen anderen Teilbereichen menschlicher Sexualität, erst recht bei den normwidrigen und nicht auf banale Reproduktion ausgerichteten Varianten. Nur deshalb hat die Mehrheitsgesellschaft sich ja perverse Daumenschrauben wie den 13. Abschnitt des Strafgesetzbuchs ausgedacht und diesen dreisterweise auch noch mit der völlig irreführenden Überschrift »Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung« betitelt. Jeder einigermaßen klar denkende und triebbewußte Mensch erkennt bei genauem Hinsehen, daß sexuelle Fremdbestimmung durch Kriminalisierung dessen Absicht ist. Und gesellschaftlich ist das mehrheitlich auch so gewollt. Nur so erklärt sich, daß, ebenso mehrheitlich begrüßt, sehr bald nach Abschaffung des einvernehmliche Homosexualität kriminalisierenden Paragraphen 175 des Strafgesetzbuches mit der eingetragenen Lebenspartnerschaft ein neues Sondergesetz für Homosexuelle installiert wurde. Die FDP ist bei diesem Disziplinierungsbemühen einfach nur konsequenter als vermeintliche Sozialisten, Spezialdemokraten, Bündnisgrüne oder christliche Demokraten. Die sogenannte Homoehe ist ausschließlich auf Gleichschaltung normwidrigen Fickens ausgerichtet und auf das Einfordern und Belohnen von Anpassungsleistungen einfach strukturierter Zeitgenossen.
Es ergeben sich gar keine Vorteile daraus?
Doch, als Verpartnerter kann ich nun offiziell fremdgehen oder auf dem Standesamt einen devoten, weil abhängigen Ausländer erwerben. Und wenn ich meinen Freund zu Tode geliebt habe, erbe ich nach Frau Zypries aktueller Drohung demnächst wohl sogar seine Rente. Doch wenn ich mich erst mal als von der bourgeoisen Mehrheitsgesellschaft Ausgestoßener begriffen und von bedürfniswidrigen Normen und Rahmenbedingungen emanzipiert habe, kann ich auch ohne Selbstanzeige und freiwillige Erfassung in standesamtlichen Rosa Listen ungehemmt in Darkrooms, auf Autobahnrastplätzen oder im Grunewald herumhuren. Dafür brauche ich nun wirklich kein Okay eines deutschen Beamten und dessen Siegel auf irgendeiner lächerlichen Urkunde. Im übrigen sind die Kosten für eine psychologische Gesprächstherapie selbst nach der sogenannten Gesundheitsreform deutlich niedriger als die für eine Scheidung oder Entpartnerung. Oder heißt das dann »Austragung«? Sie sehen, ich bin noch nicht so weit gesunken. Noch preiswerter allerdings ist klarer Menschenverstand im Vorfeld solch selbstverschuldeter Schicksalsschläge. Mit anderen Worten: Mitdenken lohnt sich sogar finanziell.
Kann es in unserem politischen System überhaupt eine Gleichstellung von Homo- und Heterosexuellen geben?
Selbstverständlich! Sehen Sie sich die Tatbeteiligung von Vorzeigeschwulen im Berliner Bankenskandal an, über die Matthew D. Rose bereits ausführlich berichtet hat. Oder das Drängen nach Optimierung der Ausbeutung menschlicher Sexualität durch politisch Verantwortliche jedweder Neigung mittels »Gender Mainstreaming«: Machs Frauen, Lesben und Schwulen am Arbeitsplatz nett, dann schubbern sie wie die Hafennutten so ähnlich hat das bereits die Publizistin Esther Hutfless auf den Punkt gebracht. Nicht ohne Grund winkt Bundesfamilienministerin Renate Schmidt den Jugendspitzenverbänden mit EU-Fördermitteln, wenn sie »Gender Mainstreaming« als Prinzip in ihrer formal autonomen Verbandsarbeit verankern. Bei schwulen Managern wie denen des »Völklinger Kreises« oder anderen Bewegungsprofiteuren werden bestehende Formen der Zwangsprostitution jedoch unter der halbseidenen Forderung nach sexueller »Vielfalt« am Arbeitsplatz in Profitcentern wie Banken oder Versicherungen verballhornt. Und Großunternehmen, die diese »Vielfalt« besonders vorbildlich optimiert auszunutzen verstehen, bekommen alljährlich einen warmen Management-Preis. Die Zielgruppe wirds bei ihrem Konsumverhalten schon irgendwie honorieren. Eine überzeugendere Form von Gleichstellung von Heten und Homos als die in der alltäglichen Ausbeutungspraxis kann es doch gar nicht geben.
Das schwul-lesbische Stadtfest in der Bundeshauptstadt eröffnet alljährlich die Saison der weitgehend kommerzialisierten Homo-Events. Solche Christopher-Street-Days gibt es inzwischen in über 30 deutschen Kommunen unterschiedlicher Größe. Was haben eine politische Einrichtung wie das whk und eine sexualpolitische Fachzeitschrift wie Gigi dort mit einem eigenen Stand zu suchen?
Diese Frage ist wunderbar, suggeriert aber Unzutreffendes. whk und Gigi als gesellschaftskritische Institutionen boykottieren die Leistungsschauen der Damendarsteller und Herrenimitatoren aus politischem Prinzip von Anfang an. Anders hingegen der Schwul-lesbische Informations- und Presseservice SCHLIPS e.V., der als Journalistenbüro derartige Exzesse schon von Berufs wegen beobachten muß. Als Förderverein für ehrenamtliche Medien präsentiert er auf dem Stadtfest selbstverständlich auch das derzeit bedeutsamste der von ihm unterstützten Projekte, sprich: die Zeitschrift Gigi. Der Stand in der Kalckreuthstraße mag wie ein Gigi-Stand wirken, weil SCHLIPS ja außer einer Website keine eigenen Medien herausgibt. Im letzten Jahr wurde der Stand zum Beispiel mit dem Lesbenarchiv Spinnboden geteilt. Die Bildungseinrichtung fand nirgendwo sonst Asyl, als bemerkt wurde, daß ein Stand zuwenig angemietet worden war. So sieht diese Szene heute aus: Bildung raus, Caipirinha-Stand rein.